ZTM Schwerpunkt
Geschichte des digitalen Notfallmanagements
Die Geburtsstunde des digitalen Notfallmanagements in der Modellregion Rhön liegt im Jahr 2004 – also noch vor der Gründung des ZTM. Zunächst ging es nur darum, die Kommunikation zwischen Rettungsdienst und Klinik mit Technologie zu verbessern, genauer gesagt: mit Mobiltelefonen auszustatten. Die Idee dahinter: Werden Schlaganfallpatienten der Klinik schon von unterwegs aus telefonisch angekündigt, gewinnen die Ärzte dort wertvolle Zeit für die Akutversorgung. Davon profitiert der Patient mit höheren Heilungschancen.
„Was uns heute selbstverständlich erscheint – dass Rettungsdienst-Mitarbeiter flächendeckend Mobiltelefone dabeihaben – war damals nicht leicht umzusetzen“, erinnert sich Dr. Asarnusch Rashid. Der heutige Geschäftsführer des ZTM war 2004 noch Mitarbeiter des FZI Forschungszentrums Informatik in Karlsruhe und leitete das Projekt in Kooperation mit der Stiftung Schlaganfallhilfe, der Neurologischen Klinik in Bad Neustadt und dem BRK.
Kaum war der erste Meilenstein geschafft – die Ausstattung der RTW mit Mobiltelefonen – wurde schon das nächste Ziel anvisiert: Statt Telefonen sollten nun PDAs zum Einsatz kommen, eine Art Vorläufer heutiger Tablets. Man erkannte, dass beim Telefonieren viele Fehler- und Störquellen eine optimale Übernahme durch Stille-Post-Effekte verhindern. Das Projekt wurde vom BMBF gefördert und trug den Namen „PerCoMed“, eine Abkürzung für „Pervasive Computing in der vernetzten medizinischen Versorgung“. Pervasiv, also durchdringend, bezieht sich in diesem Fall darauf, vernetzende Technologien in die medizinische Anwendung zu bringen. In einer ersten Testphase wurden fünf Rettungswagen in der Region Rhön-Grabfeld mit PDAs bestückt.
2008 kam der Durchbruch Ziel des Projekts war stets auch der wissenschaftliche Beweis, dass die Vernetzungstechnologie tatsächlich eine bessere medizinische Versorgung mit sich bringt. Eine erste Reflexion der Ergebnisse erfolgte beim ersten „Stroke Angel“-Workshop im Jahr 2006. 2007 folgte eine Testphase mit dem Tablet-PC „Future Pad“ anstelle eines PDA. 2008 war schließlich klar: Die digitale Vernetzung mit dem Rettungsdienst führte zu einer deutlichen Verbesserung der Prozesse in der Akutklinik. „Die publizierten Ergebnisse waren so beeindruckend, dass sie bei Neurologen und Rettungsdienstlern einen regelrechten Aha-Effekt auslösten: „Man war sich einig, dass die Technik sofort in die Regelversorgung eingebracht werden musste“, sagt Patrick Eder, Innovationsmanager beim ZTM für den Bereich digitales Notfallmanagement. Im gleichen Jahr gab es dafür den Golden Helix Award – eine hochangesehene Auszeichnung für Qualitätsverbesserungen im Gesundheitswesen.
Was war so spektakulär? Durch den „Stroke Angel“ ließ sich die Zeit vom Eintreffen des Patienten in der Klinik bis zur Versorgung („door to needle“) auf die Hälfte reduzieren. Wo vorher eine Stunde verstrich, bis der Patient einer medikamentösen Lyse (=Auflösen) des Blutgerinnsels zugeführt werden konnte, geschah das dank der Vernetzung mit dem Rettungsdienst nun bereits nach 30 Minuten. Und das bei einem Krankheitsbild, bei dem jede Minute zählt, um intaktes Hirngewebe zu retten und damit das Sterberisiko und das Risiko einer Behinderung zu verringern. Diese Verbesserungen waren systematisch durch den Einsatz von PDAs erzeugbar – ein aus heutiger Sicht simples, aber damals fortschrittliches Instrument.
Auf Schlaganfall folgt Herzinfarkt Nach dem Abschluss des Schlaganfall-Projekts im Jahr 2008 begann man im Jahr 2009 nach anderen Krankheitsbildern Ausschau zu halten, auf die sich das „Stroke Angel“-Prinzip übertragen ließ. Am naheliegendsten erschien der Herzinfarkt: Denn auch hier gilt die Zeit vom Eintreffen des Patienten in der Klinik bis zur Eröffnung des verschlossenen Blutgefäßes – durch Medikamente oder Kathetereingriff – als kritisch für das Behandlungsergebnis.
Noch 2009 begann man mit der Pilotierung des Nachfolgeprojekts „Cardio Angel“ in den Regionen Fulda, Dachau und Uelzen. Ein Jahr später gründete sich das Zentrum für Telemedizin in Bad Kissingen und übernahm von diesem Zeitpunkt an eine Art „Kümmerer-Funktion“: Neben der technisch sehr aufwändigen Installation übernahm man dort auch Support und Öffentlichkeitsarbeit.
Prozesse analysieren, Welten zusammenbringen Bei genauerer Betrachtung der Nutzungsweise des „Cardio Angel“ stellte sich heraus: Nicht die Technik allein war der Schlüssel zum Erfolg. Vielmehr musste man sich auch die Prozesse genauer anschauen. Denn letztlich war es die Vernetzung der Sektoren, die die Versorgung verbessert hatte. „Rettungsdienst und Klinikärzte kommunizieren traditionell oft nicht immer miteinander“, so Patrick Eder. Ein technisches Produkt hatte im Falle von „Stroke Angel“ und „Cardio Angel“ die Kommunikation gefördert. Um die Vernetzung noch weiter voranzutreiben, musste man den Fokus also auf die Prozesse legen.
Zu diesem Zweck startete 2010 das BMBF-Projekt „INSPIRE“. Es folgten Workshops und Prozessanalysen mit der Fragestellung: Wie kann man Netzwerke sektorenübergreifend fördern? Wie bringt man Menschen dazu, miteinander zu reden? Wie lassen sich zwei so unterschiedliche Welten wie Rettungsdienst und Klinik zusammenbringen?
Eine kleine Liebesgeschichte „Bei INSPIRE haben wir gesehen, dass die Leute miteinander reden wollen,“ stellt Patrick Eder fest. Gleichzeitig sei auch das gegenseitige Verständnis gestiegen. Insbesondere die Neurologen hätten erkannt, was der Rettungsdienst leistet und dass dieser ein wichtiger Bestandteil der Akutversorgung ist. „Hier haben zwei Welten zusammengefunden, es hat sich sozusagen eine kleine Liebesgeschichte entsponnen.“ Gleichzeitig blieben auch in dieser Phase hochrangige Publikationen und Preise nicht aus – wie etwa 2011 eine Veröffentlichung zur „Prähospitalen Telemedizin beim neurologischen Notfall“ in der Fachzeitschrift Nervenheilkunde oder 2012 der Karl-Storz-Telemedizinpreis für die „Stroke Angel“-Initiative.
Im Jahr 2012 wurde das „Angel“-System als das Produkt „NIDAklinik“ in die Strukturen des ZTM überführt. 2013 fiel die Entscheidung, die „NIDApads“ über das Telematik-II-Projekt des BRK im bayernweiten Pilotbetrieb einzusetzen. Über die Jahre hinweg wurde die Technik immer wieder verändert, erweitert und auf den aktuellen Stand gebracht: z. B. durch die Implementierung des 4-Item-Stroke-Scale in das „Stroke Angel“-System.
Um Verbesserungen abzuleiten, wurden außerdem gesammelte Daten in einer Datenbank zusammengeführt, was nicht nur zu einer Proof-of-Concept-Studie zum „Qualitätscockpit in der Notfallmedizin“ im Jahr 2017 führte, sondern auch eine Vorreiterrolle für andere Initiativen im Bereich der Versorgungs- und Registerforschung und Strukturplanung hatte.
2018 startete das Projekt „TeleStroke Ambulance“ in Bad Neustadt. 2019 entschlossen sich 21 Kliniken in Hamburg, das „NIDAklinik“-System stringent umzusetzen, weitere Regionen folgten. Inzwischen schließen sich 30 bis 40 Kliniken pro Jahr dem System an. Das ist auch deshalb möglich, weil standardisierte Schnittstellen geschaffen wurden. Aufgrund des immensen Anwenderwissens entschloss man sich zur Gründung eines Expertenbeirats, der 2019 erstmals tagte. 2020 fand erstmals das ZTM-Symposium zum Digitalen Notfallmanagement statt. Durch das Krankenhauszukunftsgesetz wird diese Vernetzung sogar gesetzlich gefordert und finanziell gefördert.
Was bringt die Zukunft? Blickt man zurück auf eine Entwicklung, die mit Mobiltelefonen angefangen hat und nun mit Tablet-PCs weitermacht, stellt sich die Frage: Was kommt als Nächstes? „Virtual Reality, mobile Robotik und Künstliche Intelligenz sind Technologien, die in 15 bis 20 Jahren eine Rolle spielen können“, glaubt Patrick Eder. Primär ging es dem ZTM aber immer um Technologien, die unmittelbar in der Anwendung Einzug halten können. Zudem ist das digitale Notfallmanagement noch längst nicht überall in der Notfallmedizin angekommen: „Jenseits von Schlaganfall, Herzinfarkt und Verkehrsunfällen ist in einigen Bereichen noch viel Aufklärungsarbeit nötig“, so Patrick Eder. Und etwa ein Drittel aller Rettungsdienste und Notaufnahmen arbeiten immer noch mit Stift und Papier.
Weitere Informationen finden Sie unter ztm.de/notfallmanagement